Dienstag, 23. September 2008

Beschädigte Krankenhausmauer

Liebe Freunde, Familie, Bekannte und Interessierte,

wie instabil der Nahe Osten ist, habe ich heute Nacht das erste mal "direkt vor der Haustür" erlebt. Von 18:00 abends bis 1:00 nachts, also vor etwas mehr als einer Stunde, musste ich arbeiten. Kurz vor 23:00 bin ich mit einem Patienten namens Zinovi beschäftigt, einem russischen Juden, den ich gerade zusammen mit der Nachtkrankenschwester ins Bett schaffe....auf einmal hören wir Schüsse, und Schwester Monika sagt noch zu Zinovi: "Party, Party". Klar, naheliegend, schließlich ist gerade Ramadan und nachts hört man oft vom Damaskustor her Silvesterknaller. Jedoch sind diese Schüsse unheimlich laut, und es sind mindestens ein Dutzend am Stück. Ich gehe zu einem Fenster, welches auf die Paratroopers und die Shivtei gerichtet ist. Diese zwei Straßen führen zu einer großen Kreuzung zusammen, die man von diesem Fenster aus Zimmer 8 sehen kann. Am Fenster sehe ich Christina stehen, und ich schaue raus...: Soldaten, die panisch die Straße hochrennen, Zivilisten, die humherlaufen, Krankenwagen, Ambulanz, noch mehr Soldaten. Man hört Leute schreien und noch ein paar Schüsse. Könnt ihr euch die erste Reaktion auf diese Situation vorstellen? "Krieg", denk ich natürlich, oder vielleicht eine 3. Intifada? Danach spielten sich die Ereignisse für mich Schlag auf Schlag ab...Pfleger und Ordensschwestern vom Krankenhaus kommen herein: sie standen unten auf der Straße unmittelbar neben dem Szenario. Das Krankenhaustelefon hört nicht mehr auf zu klingeln, ich tausche mich mit Volontären aus, wir als Volontärsgruppe (viele waren zu dem Zeitpunkt noch auf einer Hochzeit) sitzen auf der Mauer und blicken auf das Chaos...überall Lichter, viele orthodoxe Juden als Schaulustige, Menschenmassen die durch die Straßen strömen, Fernsehsender...nach ungefähr einer halben, dreiviertelstunde kommen die ersten Narichten: Terroranschlag. Damit hat sich unser Bild auf die Situation verändert: die erste Annahme von uns war: ein Auto fährt in die Shivtei, und verursacht einen Unfall. Den Fahrer schleudert es aus dem Auto und daraufhin gehen Soldaten von einem Attentat aus und schießen auf ihn. Nach und nach erfahren wir, dass es sich wohl doch um einen gezielten Anschlag handelt: ein junger Palästinenser fährt in eine Horde Soldaten, die gerade die Shivtei Straße überqueren wollen. Die ersten Zahlen sprechen von 10, die neuesten von 17 Verletzten. Einer unserer Freiwilligen ist unmittelbar nach dem Crash auf die Straße gegangen, und meinte es "hätte nach einem normalen Unfall ausgesehen..." Seht ihr wie sich die Bilder verschieben können?

Ich sitze auf der Mauer und denke wie schnell sich doch eine Situation verändern kann. Die ersten 7 Wochen ist eben nichts passiert, alles war ruhig, und für mich sah es doch eben so friedlich aus. Und auf einmal?
Interessant zu beobachten, dennoch schockierend, war folgendes: man sieht Menschenhorden sich verschieben, Leute hetzen. Aus der Alstadt (die New Gate ist gegenüber von unserem Eingang) werden auf einmal Araber verjagt. Kleine, orthodox-jüdische Jungen rennen ihnen hinterher, schmeißen mit Steinen. Weiter vorne an der Shivtei werden ebenfalls Araber verprügelt. Man spürt den Hass, der von den Menschen ausgeht...aber so richtig möchte man es nicht wahrhaben. Vorhin war ich noch Draußen vor unseren Türen. Inzwischen ist es ruhig, man sieht noch ein zwei Armeewagen. Ich sehe noch den letzten israelischen Fernsehsender, der zusammen mit orthodoxen Jugendlichen wohl ein kleines Propagandavideo gedreht hat. Was sie in die Kamera geschrien haben, dass muss ich euch wohl jetzt nicht sagen.

Das Gitter vor unserer Mauer ist jetzt eben sehr verbeult. Und das Terror an den eigenen Mauern passiert, damit hätte ich vor 3 Stunden noch nicht gerechnet, zumindest nicht wirklich.
Vielleicht habt ihr inzwischen in den Narichten davon gehört. Zwei Zivilisten sind wohl leicht verletzt, ansonsten hat es die Soldaten schwerer getroffen. Leuten vom Krankenhaus ist Gott sei Dank nichts passiert. Und auch hier in Jerusalem wird wohl morgen das Leben ganz gewöhnlich weitergehen.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Erik, nachmittags Idylle, Hitze über die man stöhnt, abends dieser Albtraum, der nicht über diese traurige Wirklichkeit hinwegtäuscht. Leider geschieht das zu oft, dass diese "Zwei Welten" (dein Blog vom 8.September) so aufeinander treffen. Wir hoffen, dass du niemals dazwischen geraten wirst und dein Leben bewahrt bleibt.
M&V

Sophia hat gesagt…

erik, pass auf dich auf! ich denke an dich... sophia

adde hat gesagt…

und das leben ging am nächsten tag nicht normal weiter. das ereignis wurde zum anstoßpunkt für eine politische debatte zur "terrorbekämpfung". man diskutiert ob die zerstörug von häusern der angehörigen von attentätern zur abschreckung von solchen taten legitimiert werden soll...
stell dir mal vor du baust einen schweren unfall und überlebst... aber keier holt nen krankenwagen, sondern soldaten schießen auf dich... wie sinnlos ist das?! statt den fahrer zu befragen/verhören wird er erschossen... klar, so is#es leichter das ganze zum eigenen nutzen auszulegen.
verrücktes, krankes israel.
Ein Krieg bricht aus, kommt halt Schockosoße drauf!
Augen auf im Straßenverkehr.
adde

Erik hat gesagt…

Genau das gehört zum alltäglichen Leben. Nach jedem Terroranschlag wird das Haus des Attentäters zerstört und abgerissen. Die Familie des jungen Palästinensers sitzt jetzt übrigens im Gefängnis.

Keine Angst ihr habt noch jede Menge Zeit, davon zu lernen was einmal von euch übrig bleibt...